Der Tanz der Veränderung

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I’m not interested in fame and glory.

It’s just that I would like others to know what a happy dance this is.

– Frankie Manning

 

 

Erfolgreiche Organisationsentwicklung ist ein Tanz zwischen Mensch und System.

Sie sollte im Flow sein und sich entwickeln dürfen, wie gemeinsames Tanzen, wenn man die Schritte beherrscht und sich von der Musik treiben lässt.

Challenges und Hindernissen begegnet man selbstverständlich immer auf einem Weg, genau wie Momenten, in denen Musik und Tanzende eins werden und alles mühelos gelingt.

 

 

Neulich war ich abends in einer Bar. Eine Liveband spielte Swing und das ein oder andere Blues-Stück.

In Gedanken war ich bei meinem Auftrag für eine mittelständische Firma. Mit wachsender Anzahl der Mitarbeitenden und einigen Herausforderungen auf ihrem Marktsegment möchten sie im Zug einer digitalen Transformation ihre Organisationsform weiterentwickeln.

Auf der schmalen Tanzfläche wirbelten Menschen umher. Männer und Frauen tanzten mal mit dem einen, dann mit der anderen. Schnell wurde ich auch aufgefordert, mitzumachen und wurde ein Teil der umeinanderkreisenden Tänzerinnen und Tänzer.

Stellt Euch die Bar vor: Die Tanzfläche ist klein. Die Tanzenden um einen herum bewegen sich. Wo eben noch Platz war, ist nun keiner mehr.

Ich tanze meist als „Follower“, also als die Person, der man Moves vorschlägt und Tanzrichtungen anzeigt. Mit zunehmender Erfahrung der Tänzer:innen entwickelt sich ein Gespräch zwischen den Führenden, den Folgenden und der Musik um sie herum. Call and Response: die Musik ruft, und wir antworten. Leads rufen, und Follower antworten. Wenn ein Follower aber zum Beispiel früher bemerkt als ein Lead, dass plötzlich kein Platz mehr ist, dann wird aus der vorgeschlagenen Bewegungsrichtung ein Solo Jazz Move auf der Stelle, den mein:e Mittanzende:r aufgreift.

Es lief „Straighten Up and Fly Right“ von Nat King Cole, ich machte jazzigen Unfug zur Musik und hatte einen plötzlichen Einfall:

 

Organisationsentwicklung ist wie Tanzen.

Um einen herum verändert sich alles. Die Menschen müssen den Tanz erlernen, die Musik finden, die sie in ihrem Vorhaben unterstützt, auf der Tanzfläche nicht mit den Kolleginnen und Kollegen und anderen Abteilungen kollidieren, vielleicht tanzen auch manche zu anderer Musik, und alles soll harmonisch ineinandergreifen.

Je mehr Tanzende die Tanzfläche betreten, desto komplexer wird es.

Auch beim nächsten Stück, und beim übernächsten soll es sich noch gut anfühlen. Man will neue Fähigkeiten und Moves lernen, um mit der Improvisation und den spielerischen Solos, die dem Jazz [1] und seinen Verwandten eigen sind, mithalten zu können. Wenn alle, mit denen man Tanzen gelernt hat, neues gelernt haben, will man auch weiterkommen.

Warum ich diesen Gedanken genau hatte?

 

Kennt ihr das 4-Quadranten-Modell von Ken Wilber?

Über die Person Wilber oder die Integrale Theorie lässt sich hervorragend streiten[2], das spezifische Modell finde ich in meiner täglichen Arbeit mit Organisationen und den Menschen darin sehr hilfreich.

Das 4-Quadranten-Modell behauptet, dass es in Bezug auf Menschen und Systeme ein individuelles und kollektives Innen sowie ein ebensolches Außen gibt.

Diese Bereiche  stehen in Beziehung zueinander, beeinflussen sich konstant gegenseitig.

Veränderungen in einem Quadrant ziehen immer Veränderungen in den übrigen nach sich. Das Innere beeinflusst das wahrnehmbare Äußere und umgekehrt.

 

 

Wie beim Tanz die erworbenen Fähigkeiten und Musikalität (individuelles Innen) die beobachtbaren Bewegungen auf der Tanzfläche (individuelles Außen) beeinflussen, die Werte und ungeschriebenen Regeln des Jazz (kollektives Innen) die Choreografien und Gestaltung / Auswahl des Treffpunkts/der Tanzfläche (kollektives Außen) – so findet sich dies auch in Organisationen wieder.

Die 4 Quadranten und ihr Zusammenspiel in der Organisation

Das kollektive Innen (Unten Links)

Was wird hier beschrieben?

Gemeinsame kulturelle und soziale Werte, Normen und Überzeugungen

  • Wie verhalten wir uns auf der vollen Tanzfläche? Wie managen wir den eigenen Tanzraum, glauben wir an Rücksichtnahme?
  • Wie gehen wir mit Aufforderungen zum Tanzen um? Geben wir auch Anfänger:innen eine Chance?

Was bedeutet das konkret in der Organisation?

Kollektive Überzeugungen und deren Einfluss auf Mitarbeiterinteraktionen und Entscheidungen sind hier angesiedelt: Die Zusammensetzung des Teams (z.B. der Anteil der Frauen an der Unternehmensspitze), die Aufwände für Klima- und Umweltschutz, die Auswahl der Partnerunternehmen – all das wird von den Werten der Organisation beeinflusst. Auch, wieviel Verantwortung einzelnen Mitarbeitenden übertragen wird, ob Gehälter offengelegt werden oder geheim bleiben, wie mit Marktmitbewerbern umgegangen wird, spiegelt die Unternehmenswerte.

Beginnt man an dieser Stelle mit der Veränderung der Organisation so analysiert man neben den oben genannten Aspekten die Beziehungen und die Beziehungsdynamik zwischen Mitarbeitenden: Wie fühlen sie sich in der Organisation und im Team? Was wird gegeben, empfangen und benötigt?

 

Das kollektive Außen (Unten Rechts)

Was wird hier beschrieben?

Äußere Strukturen, Prozesse und Systeme.

  • Welche Musik wird gespielt? Ist sie schnell oder langsam?
  • Wie ist die Tanzfläche im Raum gelegen? Wie ist der Raum insgesamt gestaltet?
  • Ist es ein Konzert oder kommt die Musik vom Band?
  • Welche Regeln gelten auf der Tanzfläche?

Was bedeutet das konkret in der Organisation?

Marktstrukturen, Unternehmensaufbau, Aufbau- und Ablauforganisation, Hierarchien und Arbeitsprozesse formen die Unternehmenskultur und beeinflussen das Verhalten aller Menschen im Unternehmen.

Beginnt man an dieser Stelle mit der Veränderung der Organisation, so analysiert man zunächst bestehende Strukturen., Arbeitsprozesse, Aufbau- und Ablauforganisation: wie sind sie gestaltet und welchen Einfluss haben sie? Was ermöglichen oder verhindern sie? Hierbei identifiziert man auch Spannungen (positive wie negative) innerhalb der Organisation.

Das Individuelle Außen (Oben Rechts):

Was wird hier beschrieben?

  • Welches Verhalten sieht man auf der Tanzfläche?
  • Wie verhält sich eine tanzende Person?
  • Wie reagiert sie auf andere, welche Bewegungen bevorzugt sie, tanzt sie schnellere oder langsamere Tänze häufiger mit?
  • Atmet sie nach einem schnellen Tanz schwer, bleibt ihr Puls ruhig?

Was bedeutet das konkret in der Organisation?

Wie verhalten sich Menschen in Situationen wie Meetings? Welche messbaren Ergebnisse tragen sie mit ihrer Arbeit bei? In welcher Rolle zeigen sie welches Verhalten und wie gehen sie mit Verantwortung um? Wie kommunizieren sie mit anderen? Welche Fähigkeiten bringen sie ein?

Beginnt man in diesem Bereich mit der Weiterentwicklung der Organisation, so untersucht man Anpassungsfähigkeit und Interaktion im Teamkontext und analysiert anhand von sinnvollen Kennzahlen die individuellen Beiträge zum Teamerfolg.

Das Individuelle Innen (Oben Links ):

Was wird hier beschrieben?

Persönliche Erfahrungen, Gedanken und individuelles Bewusstsein eines Menschen.

  • Was ist mir beim Tanzen wichtig?
  • Setze ich bei schnellen Liedern lieber aus oder hüpfe ich dann erst recht über die Tanzfläche?
  • Wie wohl fühle ich mich bei Improvisation?

Was bedeutet das konkret in der Organisation?

Der Quadrant umfasst die individuellen Überzeugungen, Motivationen und persönlichen Werte der Mitarbeiter, die ihre Handlungen und Beiträge zum kollektiven Erfolg der Organisation beeinflussen.

Beginnt die Transformation in diesem Bereich, so analysiert man das Wohlbefinden und die Mitarbeiterbedürfnisse im Arbeitskontext. Man lädt zur Selbstreflexion ein: Wer sind die Mitarbeitenden, wie geht es ihnen in der Organisation und was brauchen sie für ihre Arbeit und die Kommunikation im Team. Man konzentriert sich auf die Förderung individueller Stärken und  Wertvorstellungen der Einzelnen.

Dürfen wir bitten? Tanzschritte auf den Quadranten 

“To be a jazz freedom fighter is to attempt to galvanize and energize world-weary people into forms of organization with accountable leadership that promote critical exchange and broad reflection. The interplay of individuality and unity is not one of uniformity and unanimity imposed from above but rather of conflict among diverse groupings that reach a dynamic consensus subject to questioning and criticism. As with a soloist in a jazz quartet, quintet or band, individuality is promoted in order to sustain and increase the creative tension with the group–a tension that yields higher levels of performance to achieve the aim of the collective project. [This kind of critical and democratic sensibility flies in the face of any policing of borders and boundaries of „blackness“, „maleness“, „femaleness“, or „whiteness“].”

―Cornel West (Race Matters)

 

Cornel West beschreibt Jazz als Metapher für demokratische Zusammenarbeit, und hier zeigen sich Parallelen zur Metapher des Tanzens, speziell des Lindy Hop, den man nun mal zu Swing, einer Spielart des Jazz, tanzt.

In Wests Bild ist es das Zusammenspiel der Einzelinteressen, der Gruppen, der individuellen Bedürfnisse, die den Fortschritt und das Weiterkommen im Kollektiv überhaupt erst möglich machen. Nur in der Reibung, im Call and Response, im Wechselspiel zwischen Individualität und Kollektiv entsteht Konsens, der hinterfragt und weiterentwickelt werden kann.

Dieser Gedanke Wests gilt auch für das Wechselspiel zwischen Individuum und Kollektiv, Innen und Außen in der Entwicklung von Organisationen. Freie, eigenständig denkende und handelnde Menschen, die zum großen Ganzen beitragen und so effektive Strukturen schaffen, denen Veränderung als Teil ihrer DNA zugehörig, mit accountable leadership – das sollte auch Ziel der Entwicklung einer zukunftsfähigen Organisation sein.

Die Wechselwirkung der Quadranten zu nutzen und in der Analyse und Arbeit mit ihnen zu erkennen, welche Bedarfe die Organisation, und welche Bedürfnisse ihre Mitarbeitenden haben, ist für nachhaltige und erfolgreiche Veränderung unabdingbar.  Ein tiefes Verständnis dieser Ebenen ermöglicht es, Organisationen auf ganzheitliche Weise zu transformieren und ihr volles Potenzial zu entfalten.

 

 

All musicians are subconsciously mathematicians.

– Thelonious Monk

(Down Beat Magazine, Oct 28, 1971)

Alle Tanzenden können zählen, und die wirklich großartigen Tänzerinnen und Tänzer sind ebenso unbewusste Mathematiker:innen wie die Musiker:innen.

Auch die Entwicklung einer Organisation erfordert ein analytisches Denken und Vorgehen.

Unabhängig davon, in welchem Quadranten, in welchem Bereich man eine Transformation starten möchte, es erfordert ein methodisches Vorgehen. Organisationsentwickler planen Experimente anhand von Hypothesen, gewünschtem Outcome und vorhandenen Daten. Bevor Veränderung stattfindet, steht die Analyse der Ist-Situation an erster Stelle: ein genaues Verständnis der gewünschten Veränderungen und die Identifikation von Metriken und Kennzahlen, die uns zeigen, ob wir auf dem richtigen  Weg sind.

Innen und Außen sind miteinander verbunden, und jede Veränderung in einem Quadranten wirkt sich auf alle anderen aus. Nur mit strukturierter Analyse und klar definierten Messgrößen können solche Auswirkungen auch rechtzeitig erkannt werden, um Hinweise darauf zu geben, in welchem Quadranten man die folgenden Tanzschritte macht.

Eine ganzheitliche Herangehensweise ist entscheidend für nachhaltige Veränderungen. Wenn wir lediglich Prozesse ändern, ohne das kollektive Innenleben, die Kultur und Werte zu berücksichtigen, wird dies langfristig nur begrenzte Veränderungen bewirken. Ebenso werden isolierte Verhaltensänderungen weder das individuelle Innenleben noch die Unternehmenskultur beeinflussen. Solche Ansätze führen oft zu „zivilem Ungehorsam“ in Form von (vermeintlich) brauchbarer Illegalität, da sie Prozesse und Strukturen vernachlässigen. Ein ganzheitlicher Blick auf alle Quadranten ist unerlässlich, um tiefgreifende und nachhaltige Transformationen zu ermöglichen.

Als Organisation im Wandel startet man vielleicht mit dem Erlernen der Schritte einer Choreografie zu einem bestimmten Song, dem Trainieren der Prozesse und Frameworks, im Quadranten des kollektiven Außen (Unten Rechts).

Dann wendet man sich aufgrund der sich verändernden, vorher festgelegten Metriken nach dem kollektiven Innen (Unten Links) . Hier beobachtet man die Reibung der Kultur des Unternehmens mit den neuen Prozessen und kann neue Impulse setzen:

Wir haben gerade neue Figuren gelernt, aber sie selbstbestimmt und frei anzuwenden fühlt sich noch nicht richtig an. Teams suchen nach Unterstützung bei Entscheidungen, und Fehlerkultur entwickelt sich nur zögerlich.

Der Tanz könnte sich jetzt nach Oben Rechts, ins individuelle Außen bewegen.

Hier gilt es, Leistungsindikatoren und Zielsysteme so anpassen, dass kooperatives Arbeiten und gemeinsames, eigenständiges Erreichen von Zielen belohnt wird.

 

Zugleich wird -besonders auf Führungsebene- in individuelles Coaching investiert, so dass Mitarbeitende die Möglichkeit erhalten, im individuellen Innen Oben Links ihre eigene Haltung zu reflektieren, als Person und Mensch zu wachsen.

Dann bewegt sich die tanzende Organisation vielleicht wieder nach Unten Rechts, um Strukturen und Systeme weiter zu verändern, um Wertströme zu prüfen und Unternehmensziele anzupassen.

 

Das Ziel der neuen Arbeit besteht nicht darin, die Menschen von der Arbeit zu befreien, sondern darin, die Arbeit so zu transformieren, dass sie freie, selbstbestimmte, menschliche Wesen hervorbringt.

– Frithjof Bergmann

Je mehr man tanzen lernt, je tiefer sich Musikalität ausprägt, desto freier und selbstbestimmter gestaltet man als Tänzerin oder Tänzer das Spiel mit der Musik.

Es geht auch in der Organisationsentwickung darum, vom grundlegenden Verständnis der Systeme und Strukturen hin zu einem Integrieren konstanter, fließender Veränderung zu kommen, um den Herausforderungen unserer Zeit heute und unserer  Zukunft gewachsen zu sein. Veränderung ist nicht nur überlebensnotwendig für wirtschaftliche Organisationen, sondern für die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir der Zukunft begegnen. Wenn wir Arbeit verändern, setzen wir Impulse für ein anderes Leben.

Wir müssen lernen, auf den Quadranten zu tanzen.

 

[1] Über Jazz und Agilität, vor allem Scrum,  wurde an anderer Stelle bereits geschrieben, ich bin da nicht allein mit meiner Vorliebe für das Klatschen auf die 2, die teile ich mindestens mit dem sehr empfehlenswerten Maarten Dalmijn, dessen Content man zu den Themen Scrum, Produktentwicklung und Agilität sehr unbedingt verfolgen sollte: Dalmijn, Maarten: Scrum is like Jazz

[2] Zusammenfassend könnte man sagen, ob die Integrale Theorie nicht vielleicht doch ein New Age inspirierter Unfug, und Wilber ein sich selbst zum Guru stilisierender Selbstdarsteller, ist, diese Entscheidung überlasse ich den geneigten Lesenden. Es sei darauf verwiesen, dass seine Schriften wenig Rezeption in den Wissenschaften der Philosophie und Psychologie zu finden scheinen.

Möchtet ihr es ausprobieren?  Hier findet ihr einen kleinen Impuls für jeden Quadranten.

Falls ihr lieber zunächst mit uns sprechen wollt, könnt ihr einfach einen Termin vereinbaren.